Fahrradfreundliches Lübeck?
In den letzten Wochen waren in Lübeck mehrere Entscheidungen und Maßnahmen der Verwaltung zu Lasten des Fußgänger- und Radverkehrs festzustellen. Deshalb hat der ADFC-Kreisverband eine Beschlussvorlage für den Runden Tisch Radverkehr verfasst.
Beschlussantrag des ADFC Lübeck
Der Runde Tisch Radverkehr Lübeck möge beschließen:
Der Runde Tisch appelliert an die gewählten Vertreter in der Bürgerschaft und in den mit Verkehrsfragen befassten Ausschüssen, bei allen Entscheidungen bezüglich des Straßenverkehrs die Belange des nicht motorisierten Verkehrs priorisiert zu gewichten, mindestens aber gleichwertig mit den Belangen des motorisierten Verkehrs. Dies gilt sowohl für die Planung neuer Infrastrukturen, als auch für die Erneuerung von Bestandsstrukturen und die Einrichtung von Baustellen.
Der Runde Tisch Radverkehr rügt die Sperrung des Gehweges und des südlichen Radweges der Neuen Hafenstraße im Zuge der dortigen Baustelleneinrichtung, weil offenkundig keine sachgerechte Berücksichtigung der Belange des nichtmotorisierten Verkehrs erfolgte.
Der Runde Tisch fordert, dass alle radverkehrsrelevanten Planungen dem Runden Tisch Radverkehr vorzulegen sind, solange noch Veränderungen der Planung möglich sind. Alle relevanten Planungsunterlagen sind den Teilnehmern des Runden Tisches spätestens mit der Einladung zuzustellen.
Aktualisierung 30.3.2021
Die Beschlussvorlage wurde von der Mehrheit der Teilnehmer des Runden Tisches am 30. März nicht unterstützt.
Begründung
In der letzten Novemberwoche wurden der Gehweg und der Radweg auf der Südseite der Neuen Hafenstraße aufgrund einer Baustelle für den Rad- und Fußgängerverkehr komplett gesperrt, für den Kraftfahrzeugverkehr ist lediglich der angrenzende Fahrstreifen gesperrt. Die ausgeschilderte Umleitung für Fußgänger und Radfahrer über den Jerusalemsberg ist 600 Meter länger und wird zusätzlich durch einen steilen Anstieg auf der der Konstinstraße erschwert. Für Radfahrer bedeutet dies einen zusätzlichen Zeitaufwand von 2 – 3 Minuten, Fußgänger benötigen etwa 10 zusätzliche Minuten.
Diese Sperrung für Fußgänger und Radfahrer ist so nicht hinnehmbar und entspricht auch nicht den Regelwerken. Die noch aus dem Jahr 1995 stammenden Richtlinien für die Sicherung von Arbeitsstätten (RSA) nennen für Bauarbeiten an Geh- und Radwegen die folgende Prioritätenliste für die Führung nicht motorisierter Verkehrsteilnehmer:
Weiterführung von Geh- und Radweg;
Gemeinsamer Geh- und Radweg;
Notweg auf der Fahrbahn;
Überquerungshilfe und Führung auf der anderen Straßenseite.
Eine vollständige Sperrung für Radfahrer ist nur für besondere Situationen (Brücken, Absätze) vorgesehen, nicht aber zur Optimierung des motorisierten Verkehrs.
Auf der Nordseite der Neuen Hafenstraße befindet sich ein schmaler Radweg (1,30 m + 30 cm Sicherheitstrennstreifen). Der ADFC schlägt vor, diesen Weg für die Dauer der Bauarbeiten als Gehweg umzuwidmen; für den Radverkehr sollte ein Zweirichtungsnotweg am nördlichen Fahrbahnrand eingerichtet werden mit einer Breite von mindestens 2 m (Baustellenleitfaden Baden-Württemberg und Bayern; keine explizite Angabe in RSA). Nach Einrichtung des beschriebenen Notweges verbliebe für den Kfz-Verkehr ein überbreiter Fahrstreifen je Richtung; für eine Verkehrsbelastung von 19.000 Kfz täglich ohne Abbiege- und Querverkehr ist dies ausreichend. Die gelegentliche Schließung der Eric-Warburg-Brücke rechtfertigt in keiner Weise eine komplette Sperrung der Neuen Hafenstraße für Fußgänger und Radfahrer, zumal im Vorfeld der Brücke auf einer Länge von ca. 150 m zwei Fahrstreifen zum Rechtsabbiegen zur Brücke und ein Fahrstreifen zur Hafenstraße weiter genutzt werden können, da hier der Geh- und Radweg zusammen so breit sind, dass sie unter Baustellenbedingungen den gesamten Geh- und Radverkehr aufnehmen können.
Lübeck ist die Hauptstadt der Fahrradunfälle
Die Einrichtung dieser Baustelle ist das zurzeit letzte Glied in einer langen Kette von Entscheidungen zulasten des Fußgänger- und Radverkehrs. Anlässlich der Publikation des Verkehrssicherheitsberichtes wurde im März 2019 Rainer Dürkop, der Verkehrssicherheitsexperte der Polizei Lübeck, in den Lübecker Nachrichten mit folgender Feststellung zitiert: „Lübeck ist die Hauptstadt der Fahrradunfälle“. Als wesentliche Ursache für diese Unfallhäufung führt er aus: „Das Radwegenetz ist teilweise in 40 Jahren nicht einmal saniert worden.“ Eine Erklärung für dieses Versäumnis könnte die nachfolgende Stellungnahme der Stadtsprecherin aus dem Oktober 2019 anlässlich der Änderung der Verkehrsregelung am Lohmühlenteller bieten: Die Stadt gehe davon aus, dass die bereits bestehende Furt für Radfahrer und Fußgänger „weiterhin auch bei der Vollsignalisierung für einige Probleme in der Verkehrsabwicklung sorgen wird“. Aktuell wurde die Sperrung der Neuen Hafenstraße auf der städtischen Baustellenübersicht im Internet nicht angekündigt, mit folgender Begründung: „Es ist leider aufgrund der Fülle von einzelnen kleinen Baumaßnahmen nicht möglich, auch die Einschränkungen auf Rad- und Fußwegen abzubilden.“ Diese Handlungen und Äußerungen legen den Schluss nahe, dass von Teilen der Stadtverwaltung Fußgänger und Radfahrer nicht als Verkehrsteilnehmer, sondern als Verkehrshindernis angesehen und demzufolge auch übersehen werden.
Neue Bahnhofsbrücke mit weniger Platz für Fußgänger und Radfahrer
Darüber hinaus ist gerade in jüngster Zeit auch eine weitere Einengung der Flächen für Fußgänger und Radfahrer zugunsten des Kfz-Verkehrs festzustellen. So werden die Flächen für Fußgänger und Radfahrer auf der neuen Bahnhofsbrücke einschließlich der Sicherheitsräume nur noch eine Gesamtbreite von 10 m aufweisen gegenüber 10,40 m auf der alten Bahnhofsbrücke; die nutzbare Breite für den Kfz-Verkehr wird hingegen von 12 m auf 19,50 m großzügig aufgestockt. Die Breite der Seitenräume entspricht eben dem Regelmaß für durchschnittlich genutzte Radwege, die Gehwege sind unterdimensioniert. Auf der Wakenitzbrücke wird auf der Nordseite der Radweg durch die neue Lärmschutzwand von bisher 1,75 m auf 1,10 m eingeengt (jeweils einschl. Sicherheitsraum); damit wird eine gemeinsame Fläche für Fußgänger und Radfahrer unausweichlich, welche aber für Hauptrouten des Radverkehrs – zu denen die Wakenitzbrücke fraglos gehört – in den technischen Regelwerken ausgeschlossen wird. Der Hinweis der Stadt, dass der Radverkehr in beiden Richtungen überwiegend auf der Südseite der Brücke verläuft, trifft zwar zu; angesichts der für einen Zweirichtungsradweg vollkommen ungenügenden Breite auf dieser Seite verbleibt aber zumindest ein sehr schaler Beigeschmack.
Radfahren unerwünscht auf der Possehlbrückenrampe
Ein weiteres Verbot für Radfahrer wurde kürzlich auf der zurzeit einzigen Verbindungsrampe zwischen Possehlbrücke und südlichem Kanaluferweg angeordnet. Der damalige Leiter der Verkehrsplanung wurde bereits anlässlich der Präsentation der Planungen für das neue Wohnquartier am Geniner Ufer darauf hingewiesen, dass die alte, inzwischen abgebaute Rampe in keiner Weise den Anforderungen von Fußgängern, Radfahrern, und mobilitätseingeschränkten Menschen entsprach. Er versprach damals einen deutlich verbesserten Neubau an gleicher Stelle. Tatsächlich ist dieser Neubau noch schlechter benutzbar ist als die alte Konstruktion. Die aktuelle Sperrung wurde seitens der Baubehörde mit den Bauarbeiten am Wendeplatz der Charlottenstraße begründet. Diese Arbeiten sind inzwischen abgeschlossen, die Absperrungen sind entfernt – das Benutzungsverbot für Radfahrende ist nach wie vor angeordnet. Ein solches Verbot ist trotz der örtlichen Qualitätsmängel nicht hinnehmbar – erst recht nicht im Verlauf des einzigen Radfernweges, der die Kernstadt von Lübeck durchquert.
Priorisierung des Radverkehrs
Die durchschnittliche Länge aller in Lübeck zurückgelegten Wege beträgt 7 Kilometer, liegt also im üblichen Entfernungsspektrum des Radverkehrs. Für eine Priorisierung des Radverkehrs gegenüber anderen Verkehrsträgern bestehen drei Rationalen:
- 1. Radfahren ist die kostengünstigste Mobilitätsform, sowohl für die einzelnen Verkehrsteilnehmer als auch für die Allgemeinheit. Auch die kommunalen Wegekostenzuschüsse für den Radverkehr liegen bei gleicher Verkehrsleistung weit niedriger als die kommunalen Zuschüsse für jeden anderen Verkehrsträger.
- 2. Gehen und Radfahren senken das Krankheitsrisiko, verzögern das Einsetzen des altersbedingten Leistungsabbaus und verlängern die Lebenserwartung. Diese Effekte sind abhängig von der wöchentlich zurückgelegten Distanz. Radfahren in einem Umfang von 50 km wöchentlich senkt das Sterblichkeitsrisiko um 28%; daraus errechnet sich umgekehrt unter Berücksichtigung der Lübecker Mobilitäts- und Sterblichkeitsdaten eine Zahl von 510 vorzeitigen Todesfällen jährlich infolge zu geringer Radnutzung. Mehr als die Hälfte dieser vorzeitigen Todesfälle könnte durch gute Radfahrbedingungen verhindert werden.
- 3. Der motorisierte Personenverkehr setzt Luftschadstoffe (Stickoxide, Feinstaub) frei und ist damit verantwortlich für etwa 8.000 Todesfälle jährlich in Deutschland (laut Umweltbundesamt). Er trägt außerdem in erheblichem Umfang zum Klimawandel bei, beides betrifft vor allem den Pkw-Verkehr. Eine beträchtliche Verlagerung des Kurzstreckenverkehrs auf Gehen und Radfahren, und des Langstreckenverkehrs auf den öffentlichen Verkehr könnte den Ausstoß von Klimagasen und Luftschadstoffen durch den Personenverkehr um rund 30% reduzieren.
Die Hansestadt Lübeck hat die große Chance, mit einer gezielten Förderung des Radverkehrs ihren Haushalt zu entlasten, viele Menschenleben zu retten, und dem Erreichen ihrer selbst gesetzten Klimaziele einen großen Schritt näher zu kommen. Die wünschenswerte Zunahme der Fahrradnutzung wird aber nur dann erfolgen, wenn die Anlagen des Radverkehrs zügig dem Stand der Technik angepasst werden, und wenn Benachteiligungen des Radverkehrs gegenüber anderen Verkehrsträgern konsequent beendet werden.